Mittwoch, 15. Dezember 2010

Mama

Meine Mutter ist gestorben.

Eine Woche genau bin ich nun in mich gegangen und habe mein Herz erforscht.
Es ist fast stumm. Manchmal kommt Trauer hoch. Aber sie fühlt sich stumpf an.

Ich habe mich angestrengt und das Leben, die Momente mit meiner Mutter Revue passieren lassen. Ich vergleiche sie mit den Bildern aus dem Fotoalbum. Meine Mutter, eine sinnliche, glückliche und strahlende Mutter. Ein glückliches, strahlendes Baby auf ihrem Arm und ihrem Schoß. Eine schöne Frau.

Meine Mutter und ich.

Ich bin 2 oder 3 Jahre alt und mag mein Essen nicht schlucken. Ich mag nicht was sie mir vorsetzt. Sie sagt, ich dürfe erst aufstehen, wenn ich aufgegessen habe. Ich schiebe alles Essen in die Wangen. Nach einer gefühlten Ewigkeit darf ich aufstehen und es in die Toilette spucken.

Ich bin 4 Jahre alt und wache auf, weil ich allein in der Wohnung bin. Alles dunkel. Ich schreie panisch nach ihr. Sie ist in der Wohnung über uns bei den Nachbarn und irgendwann kommt sie runter. Sie ist ärgerlich. Was schreist Du hier so rum. Sie tröstet mich nicht, nein, sie ist ärgerlich. Sie ist 24 und wollte sich amüsieren.

Ich bin immer noch 4 oder 5 und liege neben ihr im Bett. Papa ist auf Dienstreise. Ich will ihren Körper nicht berühren, ich ekel mich.

Ich bin älter und wir haben uns gestritten. Daraufhin tröstet sie mich und nimmt mich in den Arm.
Hat meine Mutter mich auch ohne Streit in den Arm genommen? Ich erinnere mich nicht.

Ich bin 5 oder 6 oder 7 und meine Mutter möchte mir mit dem Kochlöffel den Hintern versohlen. Ich flüchte vor ihr und lande in der Küche auf dem Boden. Sie versucht mich zu schlagen und ich trete nach ihr.

Ich bin 7 Jahre alt und laufe weinend nach Hause. An der Tür flehe ich sie an, nicht zu schimpfen. Ich habe eine 3 in Aufsatz bekommen. Meine Mutter schimpft nicht, aber sie ist schwer enttäuscht und schweigt mich beim Mittagessen an.

Ich bin 8 Jahre alt, komme früher als geplant von Alexandra nach Hause und meine Mutter ist nicht da. Ich laufe die Copacabana rauf und runter, unter Tausenden von Menschen. Schließlich komme ich bei der Familie des Portiers unter- eine dicke schwarze Mama und ganz viele Kinder und ich möchte da nicht mehr weg.

Ich bin 11 und tröste meine Mutter wie sie nachts weinend und rauchend über dem Esstisch brütet und auf meinen Vater schimpft. Nicht einen Abend, nein Mehrere.

Ich bin 13 oder 14 und gebe meiner Mutter im Streit eine Ohrfeige.

Ich bin 19 oder 20 und sehe zu, wie meine Mutter sich vor ihrem Samstag-Abend-Besuch übergibt, weil sie zu viel Schnaps getrunken hat. Ich schreie Alle an, wie sie das haben zulassen können und werde ausgelacht.

Meine große Liebe hat sich von mir getrennt und ich gehe zu meinen Eltern.
Aber Niemand, auch meine Mutter nicht, nimmt mich in den Arm.

Liebe Mama, Du hast bestimmt Dein Bestes gegeben, aber irgendwas war mit Dir nicht gut. Du konntest Vieles nicht geben. Du warst all die Jahrzehnte in Dir gefangen wie ein unglückliches Tier in einem Käfig. Du hast Dich Deinem Kind nicht geöffnet. Vielleicht wolltest Du dieses Leben nicht. Du hast Dich durchlavriert, aber Du hast es nicht gemocht.
Du hast mich geliebt, ich hab Dich geliebt wie ein Kind seine Mutter nunmal liebt, aber meine Trauer wird nicht lebendig. Da ist kein tiefer Schmerz.
Da ist Bedauern um Dein vermurkstes Leben. Es ist Mitleid und Erbarmen. Wir sind keine Freundinnen geworden. Ich konnte Dir nicht nahe kommen. Du mir nicht. Du hast es nicht böse gemeint, ich verzeihe Dir, Du warst jung und hast selbst so wenig Mutter gehabt, Du konntest es nicht besser. Ich bin Dir nicht böse.

Lebe wohl, geliebte Mama. Lebe wohl.
Nun hast Du endlich Frieden.

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