Mittwoch, 21. Juli 2010

Angst




da ist sie wieder. Aus heiterem Himmel, aus dem off stellt sie sich ein, geradezu panikartig- die Angst, der Tod könnte Philip und mich trennen.

Was könnte ich noch tun auf dieser Welt ohne ihn?
Wozu sollte ich noch da sein?

Ich weiß, ich war vorher auch nicht überflüssig(er), aber seit er da ist, ist es eben anders. Mein Leben hat nicht erst Sinn durch ihn, oh nein, so ist es nicht. Mein Leben hat auch Sinn, weil ich schöne Bücher lesen und Musik hören, weil ich Essen genießen und interessante Länder besuchen kann. Nein, das Leben an sich macht schon Sinn.
Aber das Leben ohne ihn ist traurig. Ohne ihn geht nicht.

Und was ist, wenn ich vor ihm gehe? Wie soll ich das ertragen, wenn ich nicht weiß, was aus ihm wird. Wenn er nach mir ruft und ich nicht für ihn da sein darf?
Wenn ich nicht erleben darf, wie er größer und größer und eine Persönlichkeit wird, dieses Menschlein, das in meinem Körper gereift ist, wer Einem diese macht gibt, der darf sie Einem nicht wieder vergällen.

Gott sei Dank bleibt die Angst nicht lang. So wie sie anfliegt geht sie wieder. Es geschieht wohl an den Tagen an denen man besonders glücklich ist über dieses Menschlein, über dieses Kind, das man selbst geschaffen hat.

Schlechte Tochter, schlechte Mutter

Ich wollte es notieren und dachte, ich behalt's auch so, doch es ist weg, alles, was ich über dieses Buch gedacht und empfunden habe.

Doch das Eine, das Ärgste, das ist noch da und schlägt noch immer wehe Wunden:

meine Mutter lebt noch und doch ist sie für mich schon lange tot. Sie ist nicht mehr da, meine Mama. Ihr Hirn ist geschrumpft oder wie geht es vor sich bei Korsakow, wie kann es sonst sein, dass sie nichts mehr weiß, nichts mehr kann, nicht mal die Toilette bei sich behalten. Sie ist im Stadium eines Kleinkindes, läuft mit Windeln umher, stopft Essen mit den Händen in den Mund und lässt es herauspurzeln. Sie ist wie mein 2jähriger Sohn: sie ist keine Mama mehr!

Es war schon so als ich schwanger wurde. In der 12. Woche besuchte ich sie im Heim, wo sie nach einem Sturz in Kurzzeitpflege war. Sie hatte verstanden, dass ich schwanger bin, aber wir haben uns nicht zusammen gefreut wie Mutter und Tochter- denn sie interessiert sich nur kurz für etwas, nach 2 Minuten driftet sie ab, ihr Hirn kann nicht mehr leisten, das ist so bei Korsakow. Sie hat nicht besorgt die Hand auf meinen anschwellenden Bauch gelegt, sich nicht erkundigt, ob ich auch genug Obst esse, ob alle Untersuchungen gut waren, nein, sie hat nicht eine Nachfrage gestellt, stattdessen hab ich sie gefragt, ob sie auch genug trinkt, isst und wie sie mit der im Koma liegenden Nachbarin klar komme. Sie sitzt mit 61 Jahren und Demenz vor mir und hat die Bluse vom Mittagessen bekleckert.

Ich habe viel geweint wegen ihr. Auch in der Schwangerschaft.
Ich hab auch um mich geweint. Keine Mama, die sich nach mir und dem Kind in mir erkundigt. Keine Mama, die nach der Geburt zu mir kommt, mich bekocht und mir das Baby abnimmt. So wie es die vielen jüngeren Frauen haben, die ich kennengelernt habe. Meine Mama ist da und doch nicht da. Sie hat mich im Stich gelassen. Mama, was ist geschehen, dass das so kommen musste?

Ich besuche sie nur 1 x im Jahr. Ich vergesse oft, anzurufen. Sie ist eine schlechte Mutter. Ich bin eine schlechte Tochter.